- Fortpflanzung zwischen Kindersegen und Kinderfluch, zwischen Manipulation und Opportunismus
- Fortpflanzung zwischen Kindersegen und Kinderfluch, zwischen Manipulation und OpportunismusMachen Kinder glücklich? Offensichtlich gibt es keine allgemein gültige Antwort auf die so häufig gestellte Frage nach dem Lebensglück durch Fortpflanzung. In manchen Bevölkerungen wird früh, gleich nach der Geschlechtsreife mit der Fortpflanzung begonnen, in anderen verstreichen Jahre bis zur Geburt des ersten Kindes, wenn es überhaupt dazu kommt. Mal wird Fruchtbarkeit als Segen aufgefasst und alles getan, um die fruchtbare Lebensspanne reproduktiv möglichst voll zu nutzen, mal wird Fruchtbarkeit eher als Fluch empfunden und alles getan, um Schwangerschaften zu verhindern.Diese Veränderlichkeit reproduktiver Präferenzen ist schon lange Gegenstand sozial- und kulturwissenschaftlicher Forschung, wobei Unterschiede in Tradition und Kultur häufig als die Gründe für diese Variabilität genannt werden. Kommt es innerhalb einer Gesellschaft zu Veränderungen in den reproduktiven Präferenzen, begründet man dies gern mit einem sich vollziehenden »Wertewandel«. Verhaltensforscher und Anthropologen können sich mit solchen Erklärungsansätzen jedoch nicht zufrieden geben, weil damit die Frage nach der Unterschiedlichkeit des Reproduktionsverhaltens eigentlich nicht beantwortet, sondern lediglich auf eine andere Ebene verschoben wird. Man könnte genauso gut fragen, was eigentlich den Wertewandel verursacht, und was genau seine Richtung bestimmt. Was in den kulturwissenschaftlichen Analysen fehlt, ist die unabhängige Variable oder der naturalistische Fixpunkt, von dem aus sich die kulturelle Variabilität der abhängigen Variablen verstehen lässt: die reproduktiven Präferenzen.Ein biologischer Ansatz könnte das gesuchte Koordinatensystem liefern. Schließlich ist Fortpflanzung einer der grundlegenden Lebensvorgänge, und die physiologischen und psychologischen Mechanismen ihrer Regulation unterlagen — wie alle anderen Merkmale der Organismen auch — während der menschlichen Stammesgeschichte der formenden Kraft des biologischen Evolutionsgeschehens, mit nachhaltigen Auswirkungen bis in unsere moderne Zeit.Menschen sind ReproduktionsstrategenWarum bekommen Menschen überhaupt Kinder? Auf diese für das Verständnis des Fortpflanzungsgeschehens so wichtige Frage lassen sich Antworten auf zwei grundsätzlich verschiedenen Ebenen finden. Zunächst einmal können alle jene Gründe benannt werden, die als verantwortliche Wirkmechanismen die menschliche Fortpflanzung regeln. Menschen bekommen demnach Kinder, weil sie durch das kulturelle Normenverständnis ihrer Gesellschaft dazu motiviert werden, weil sie einen psychisch verankerten Kinderwunsch in sich verspüren, weil das Aufziehen von Kindern und die Lebenserfahrung mit ihnen psychisch belohnen, und schließlich bekommen Menschen auch deshalb Kinder, weil ein physiologisch geregelter Trieb Lusterfahrungen verspricht, was zumindest unter vormodernen Lebensverhältnissen regelmäßig zu Nachwuchs führte.Die hier kurz angedeuteten Gründe für Fortpflanzung, die sich auch als proximate Gründe zusammenfassen lassen, können zwar die unmittelbaren kulturellen, psychischen und physiologischen Ursachen menschlicher Fortpflanzung benennen, doch beantworten sie nicht die Frage nach dem funktionalen Hintergrund solcher Kausalzusammenhänge. Es lässt sich weiterfragen, warum Menschen von gesellschaftlichen Normen bei der Fortpflanzung beeinflussbar sind, warum es den Kinderwunsch und eine physiologisch geregelte Geschlechtlichkeit gibt, warum sich Menschen also von den genannten Mechanismen motivieren lassen. Aus soziobiologischer Sicht lautet die Antwort: Menschen bekommen Kinder, weil sie als biologische Wesen reproduktive Interessen verfolgen und sich im Verlauf von Evolution und Geschichte die genannten proximaten Mechanismen als wirkungsvolle Instrumentarien zur optimalen Umsetzung dieser reproduktiven Interessen bewährt haben. Eine solche Antwort berührt den funktionalen, den »Wozu?«-Aspekt der gestellten Frage und spricht damit die zweite Ebene an, auf der in der Biologie Warum-Fragen behandelt werden können, die der ultimaten Gründe. Proximate und ultimate Erklärungsebenen schließen also einander nicht aus, sondern ergänzen sich. Deshalb kann auch die eine nicht überzeugender als die andere sein.Das ElterninvestmentAus biologischer Sicht ist Reproduktion eine Form von Investment, das »Elterninvestment«. Elterninvestment kann sehr verschiedenartige Formen annehmen, kann Zeit, Energie oder Lebensrisiken erforden, kann im Zusammenhang mit der Geschlechtszellenbildung, der Embryonalentwicklung oder nachgeburtlich erfolgen. Es umfasst alle Maßnahmen zur Steigerung der kindlichen Lebenschancen, die eine weitere elterliche Fortpflanzung zu einem späteren Zeitpunkt erschweren. Bemerkenswert an dieser Definition ist die hervorgehobene Bedeutung der Kosten elterlichen Verhaltens. Wegen dieser Eigenschaft unterliegen die Elternstrategien der natürlichen Selektion, da es für den Lebensreproduktionserfolg eines Individuums nicht belanglos sein kann, wann und in welchem Umfang es Kosten für seine Fortpflanzung in Kauf nimmt. Diese entstehen über vielfältige und arttypische Zusammenhänge: Unter vielen Wirbellosen und niederen Wirbeltieren verringert die Abzweigung von Stoffwechselprodukten und -energien in die Geschlechtszellenproduktion das Wachstum der Elterntiere und damit deren spätere Fruchtbarkeit. Rothirschkühe, die Jungtiere führen, verfügen über geringere Fettreserven und sind somit einem größeren Risiko ausgesetzt, den kommenden Winter nicht zu überleben, als Hirschkühe ohne abhängigen Nachwuchs. Viele weitere Beispiele ließen sich aufführen.Weil Fortpflanzung Kosten verursacht, kann ein Ziel der natürlichen Selektion nicht die unbeschränkte Reproduktion sein. Vielmehr optimiert sie die Art und Weise, in der Eltern die Investmentkosten auf sich nehmen, wobei gemäß des darwinschen Prinzips jene Maßnahmen belohnt werden, die in der Lebensbilanz zum größten Netto-Fitnessertrag führen. Die Evolution hat Eltern zu Reproduktionsstrategen geformt, die ständig Entscheidungen über einen möglichst optimalen Einsatz ihrer begrenzten Investmentmöglichkeiten treffen müssen. Einige dieser Entscheidungen zur Zuweisung von Ressourcen sind in der Stammesgeschichte genetisch weitgehend fixiert worden, andere erfordern spontane Anpassungen an die vorherrschenden Lebensbedingungen: In welchem Lebensabschnitt soll man mit der Fortpflanzung beginnen? Soll man sich überhaupt selbst fortpflanzen oder besser seine Verwandten bei deren Fortpflanzungsgeschäft unterstützen? Wie viele Nachkommen soll man zeugen? Wie groß sollen die Abstände zwischen den einzelnen reproduktiven Phasen sein? Sollen die Kinder möglichst lange behütet und versorgt oder möglichst schnell in die Selbstständigkeit entlassen werden? Wie soll der persönliche Einsatz ausfallen: Soll man als Eltern »alles geben« und sich dafür seltener fortpflanzen oder eher weniger investieren und dafür mehr Kinder bekommen? Soll in alle Nachkommen gleich viel investiert werden, oder ist es vorteilhafter, in dieser Hinsicht Unterschiede zu machen?Aus der Summe aller dieser Entscheidungen resultiert eine spezielle Lebensgeschichte, deren Anpassungswert von der natürlichen Selektion bewertet wird. Seine einzelnen Merkmale hängen auf vielfältige Art zusammen (sich häufig fortzupflanzen, bedeutet früh mit der Fortpflanzung zu beginnen und/oder die Geburtenabstände kurz zu halten), weshalb die natürliche Selektion nicht das maximal Mögliche für jede einzelne beteiligte Variable, sondern den bestmöglichen Kompromiss zwischen allen begünstigt. Weil Organismen ihre Zeit, Energie und andere Ressourcen natürlich nur einmal ausgeben (investieren) können, müssen sie über die notwendige Aufteilung ihrer immer irgendwie beschränkten Möglichkeiten entscheiden. Aus der verhaltensökologischen Forschung an Tieren sind inzwischen eine ganze Reihe derartiger Entscheidungskonflikte beschrieben worden, wobei sich zwei grundsätzliche Probleme über alle Artgrenzen hinweg verallgemeinern lassen.1) Selbsterhaltung oder Fortpflanzung? Soll ein Organismus (weiterhin) in sich selbst investieren, seine physische oder soziale Qualität und Konkurrenzfähigkeit stärken, sich entwickeln und wachsen, oder soll er sich stattdessen fortzupflanzen beginnen? Es ist der Konflikt zwischen jetziger und späterer Fortpflanzung.2) Investment in Quantität oder Qualität des Nachwuchses? Mit zunehmender Zahl von Nachkommen kann in jeden Einzelnen nur ein entsprechend geringerer Anteil vom gesamten Elternaufwand gesteckt werden. Daraus folgt ein Optimierungsproblem für die Lebensfitness: Soll man wenige, dafür aber gut ausgestattete, überlebens- und konkurrenzfähige Nachkommen oder viele, dafür aber weniger lebenstüchtige anstreben?Die Individuen einer Population unterscheiden sich in der Lösung dieser und anderer Fortpflanzungsentscheidungen. Das liegt an den individuell unterschiedlichen Möglichkeiten, denn die persönliche Fortpflanzung begrenzenden Faktoren können aus vielfältigen Gründen (genetischer, ökologischer, sozialer, aber auch zufälliger Art) individuell sehr verschieden sein. Die natürliche Selektion wird deshalb nicht die beste aller theoretisch denkbaren Aufteilungsstrategien fördern, sondern die beste angesichts der konkreten Rahmenbedingungen auch tatsächlich verfügbare. Innerhalb einer Population kann es deshalb verschiedene reproduktionsstrategische Optima geben.»Reproduktive Interessen« werden letztlich durch die evolutiv entstandenen Tendenzen definiert und berühren überhaupt nicht die Frage, wie bewusst und planvoll sie tatsächlich wahrgenommen und verfolgt werden. Keine nichtmenschliche Art weiß von ihrem reproduktiven Interesse, und dennoch haben sich in der Tier- und Pflanzenwelt teilweise hochgradig komplexe und raffinierte Lebensstrategien entwickelt, die einzig wegen ihrer Effizienz bei der Vermehrung ihrer Gene im Verlauf der Evolution entstanden sind. Um biologisch evolvierte Interessen zu verfolgen, bedarf es keiner zielgerichteten Absicht — beim Grippevirus genauso wenig wie bei der Honigbiene, dem Schimpansen oder dem Menschen. Dennoch verhalten sich diese und alle anderen Arten im Durchschnitt biologisch ausgesprochen »quasi-rational« — eben weil sie angepasst sind und im Verlauf ihrer Stammesgeschichte diejenigen Mechanismen entwickelt und verfeinert haben, die es ihnen erlauben, ihre individuellen reproduktiven Interessen im Spannungsfeld sozialer Konkurrenz und angesichts ökologischer Begrenztheit bestmöglich umzusetzen. Das Ergebnis der Anpassungsprozesse sind genetisch verankerte Reproduktionsstrategien mit zum Teil beachtlichen Freiräumen für taktisch verschiedenartige Optionen in sozioökologisch verschiedenartigen Situationen.Warum Eltern einige ihrer Kinder mehr lieben als andereDen einzelnen Kindern kommt innerhalb einer Familie oft ein individuell ganz unterschiedlicher Stellenwert in den elterlichen Reproduktionsstrategien zu. So gibt es innerhalb derselben Familien bevorzugte und weniger bevorzugte Kinder oder den Kindern werden ganz unterschiedliche Rollen innerhalb des Familiengeschehens zugewiesen. Die Palette elterlicher Möglichkeiten, Kinder unterschiedlich zu behandeln, ist weit gefächert. Sie umfasst beispielsweise eine unterschiedliche Versorgung der Embryonen und Feten innerhalb der Gebärmutter sowie Abtreibung und Kindstötung oder Aufziehen des Kindes. Weitere Möglichkeiten sind Unterschiede im nachgeburtlichen Fürsorgeverhalten, etwa der Stilldauer oder der medizinischen Versorgung, bei Erziehung und Ausbildung, eine unterschiedliche Zuweisung von sozialen Chancen und Rollen und schließlich die unterschiedliche materielle Ausstattung im Zuge von Mitgift- oder Erbschaftszahlungen mit Auswirkungen vor allem auf die Heiratswahrscheinlichkeit und andere Aspekte der Lebensbewältigung.Aus soziobiologischer Perspektive ist zu erwarten, dass Unterschiede in der Erwünschtheit und Behandlung von Kindern einen biologisch funktionalen Hintergrund haben — durch welche proximaten physiologischen oder psychischen Mechanismen es auch immer zu den Unterschieden im Umgang mit den Kindern kommen mag. In welche Kinder bevorzugt investiert wird und in welche nicht, hängt von den Kosten ab, die Eltern eingehen, wenn sie in ein Kind investieren und vom Nutzen, den ein Investment in speziell dieses Kind verspricht. Aus der Verrechnung dieser beiden Konten resultiert eine Nettobilanz, die über den adaptiven Wert eines möglichen Investments entscheidet. Demnach werden Eltern umso mehr Kosten in Kauf nehmen, also umso bereitwilliger auf Teile ihres verbleibenden Reproduktionspotenzials zugunsten ihres jetzigen Nachwuchses verzichten, je größer ihr Fitnessertrag aus diesem reproduktiven Einsatz voraussichtlich ausfallen wird. Offensichtlich lohnt sich eine bestimmte Menge an Investment umso mehr, je effektiver dieses Investment den zukünftigen Reproduktionserfolg der Kinder begünstigt — sei es, weil es deren Überlebenschancen erhöht, deren Konkurrenzfähigkeit im Paarungswettbewerb vermehrt oder anderweitig die Reproduktionschancen der Kinder verbessert. Die Nutzenseite elterlicher »Kalkulationen« wird vor allem bestimmt durch die genetische Verwandtschaft zu den Kindern, dem Alter der Kinder, ihrer Gesundheit, ihrem Geschlecht und den Umfang, mit dem sie zur Familienökonomie beitragen können — sei es durch Arbeit oder durch Mithilfe bei den weiteren Reproduktionsbemühungen der Eltern.Andererseits sollten — bei gleichen Nutzenerwartungen — Eltern umso zögerlicher investieren, je kostspieliger für sie dieses Investment ausfällt. Die Kosten, ein Kind aufzuziehen, variieren vor allem wegen einer unterschiedlichen Ressourcenverfügbarkeit, entstehender Opportunitätskosten, etwa wenn dafür eine Berufsausübung aufgegeben werden müsste, des elterlichen Alters und des Geschlechts des Kindes, wenn beispielsweise die vorherrschenden Normen das Aufziehen und die Ausstattung von Jungen und Mädchen unterschiedlich teuer werden lassen. In der Lebensrealität kommt es darüber hinaus zu zahlreichen Wechselwirkungen zwischen diesen Einflüssen. Weil aber beides, sowohl die Kosten als auch der zu erwartende Nutzen eines elterlichen Investments ganz entscheidend von der individuellen Lebenssituation der Eltern abhängt, muss mit Unterschieden in den persönlichen Nettobilanzen der Reproduktion gerechnet werden und entsprechend auch mit Unterschieden (auch innerhalb derselben Population) in den elterlichen Bereitschaften, in bestimmte Kinder zu investieren.Grenzen durch RessourcenverfügbarkeitNicht jeder Zeitpunkt ist vorteilhaft, um sich fortzupflanzen und sein Investment Erfolg versprechend einzusetzen. Um vermeidbare Kosten zu sparen, werden Organismen möglichst frühzeitig prüfen, ob sich angesichts der momentanen Lebenssituation eine Fortpflanzung voraussichtlich lohnen wird oder nicht. So ist sofort ein ökonomischer Umgang mit dem begrenzten Investmentpotenzial möglich. Ist beispielsweise bei einer zeitweisen Nahrungsmittelknappheit oder in psychosozialen Stresssituationen bereits frühzeitig zu erkennen, dass ein ausgetragenes Kind kaum (Über-)Lebenschancen hätte, sind die Einnistung der befruchteten Eizelle in die Gebärmutterschleimhaut, Embryonal- und Fetalentwicklung sowie Geburt und Stillen des Säuglings vermeidbare Kosten. Eine Frau verhält sich biologisch angepasst, wenn sie unter nachteiligen Umständen mit einer Schwangerschaft wartet, bis sich die Aussichten entscheidend verbessert haben.Zweifellos kann unter sozioökologisch schwankenden Umweltbedingungen der Reproduktionserfolg gesteigert werden, wenn die günstigeren Lebensphasen genutzt werden (woraus sich in traditionellen Gesellschaften einige Phänomene der Geburtensaisonalität erklären lassen). Entgegen früherer Auffassungen, wonach erst ein Minimum an Energiereserven (als Fett) angelegt sein muss, damit es zu einer erfolgreichen Schwangerschaft kommen kann, können sich Frauen auch dann fortpflanzen, wenn sie dauerhaft unter Nahrungsmangel leiden und über keinerlei Fettreserven verfügen. Allerdings geht das nur auf Kosten des mütterlichen Selbsterhaltungsaufwandes, also letztlich der Lebenserwartung.Umwelten können sich unvorhersehbar und schlagartig ändern, sodass mitten in einer an sich planmäßig verlaufenden Schwangerschaft eine Änderung der mütterlichen Investmentstrategie angebracht erscheint. Eine mehr oder weniger drastische Verringerung oder gar eine gänzliche Beendigung des mütterlichen Aufwands kann unter Umständen den Lebensreproduktionserfolg selbst dann noch steigern, wenn die Entwicklung des Fetus schon weit fortgeschritten ist. Der Zusammenhang von Stress (verschiedensten Ursprungs) und Schwangerschaftsrisiken ist gut belegt und kann als Anpassung an die Veränderlichkeit der psychosozialen und ökologischen Lebensumwelten gesehen werden. Auch die Wahrscheinlichkeit willentlich herbeigeführter Abtreibungen hängt von der persönlichen sozialen Lebenssituation der Schwangeren ab. Frauen in festen Partnerschaften mit geklärten Vaterschaftsverhältnissen treiben wesentlich seltener ab als jene Frauen, die ihre Kinder ohne verlässliche väterliche Unterstützung erziehen müssten.Ebenso kann bei ökologischen oder sozialen Turbulenzen das Investment der Eltern auch noch nach der Geburt reduziert oder abrupt beendet werden. Das erscheint dann biologisch angepasst, wenn — aus welchen Gründen auch immer — das väterliche Investment, das unbedingt notwendig ist, um ein Kind erfolgreich aufzuziehen, nicht zur Verfügung steht. In der ethnographischen Literatur wird ein Mangel an väterlicher Unterstützung häufig als Grund von Kindstötungen genannt, und sicherlich ist auch das in der europäischen Sozialgeschichte regelmäßig zu beobachtende erhöhte Sterberisiko der Kinder lediger Frauen Ausdruck eines verminderten elterlichen Investments. Unabhängig von der allgemein vorherrschenden Höhe der Säuglingssterblichkeit liegt das Risiko »illegitimer« Kinder regelmäßig über dem ehelicher Kinder. Dieser Tatbestand ist überraschenderweise immer noch zu beobachten, obwohl doch heutzutage ehelich und unehelich geborene Kinder eine gleich gute medizinische Versorgung erwarten können.Für Menschen ist es eine biographische Katastrophensituation ihre Ehepartner zu verlieren, mit nachhaltigen Auswirkungen auch auf eine erfolgreiche Erziehung ihrer Kinder. Anhand genealogischer Daten aus Ostfriesland (18. und 19. Jahrhundert) ließ sich zeigen, mit welchen Konsequenzen der frühe Tod eines Elternteils für die betroffenen Kinder verbunden war. Untersucht wurde das Schicksal von Kindern, die einen Elternteil innerhalb ihres ersten Lebensjahres verloren hatten. Generell lag das Risiko dieser Säuglinge, vor Vollendung des 15. Lebensjahres zu sterben, wenn sie ihre Mutter verloren hatten, 1,4-mal höher als wenn der Vater gestorben war. Das in diesem Zusammenhang interessantere Ergebnis aber war das extrem hohe Sterberisiko der Kinder, die erstes und einziges Kind waren und ihren Vater verloren hatten. Ihr Sterberisiko lag signifikant über dem der Kinder höherer Geburtsränge, also solchen mit Geschwistern. Überlebte hingegen der Vater, war kein signifikanter Einfluss des Geburtsrangs auf die Sterblichkeit der Halbwaisen zu finden. Aus der historisch-demographischen Literatur ist bekannt, dass Witwen eine wesentlich bessere Aussicht hatten, wieder zu heiraten, wenn sie kinderlos waren. Auch in dieser ostfriesischen Stichprobe fand sich ein Zusammenhang zwischen dem Tod des einzigen Säuglings einer Witwe und ihrer Wiederverheiratungswahrscheinlichkeit. Indem die Witwen ihr erstes und einziges Kind »aufgaben«, folgten sie letztlich einer Anpassungsstrategie. Die Beendigung des Investments in dieses Kind erhöhte ihre Chancen wieder zu heiraten und damit auf zukünftige Kinder.Die Bedeutung verwandtschaftlicher BeziehungenNach der Funktionslogik des »egoistischen Gens« muss eine ganz wesentliche Rolle für Investmententscheidungen die genetische Verwandtschaft zu den Kindern spielen, denn das Prinzip der Verwandtenselektion begünstigt eine Gewichtung des elterlichen Investments entsprechend dem Verwandtschaftsgrad. Je geringer die genetische Verwandtschaft, desto geringer wird im Mittel die Bereitschaft zu altruistischer Unterstützung und Fürsorge gegenüber Kindern ausfallen, denn desto unwahrscheinlicher dient elterliches Fürsorgeverhalten der Vermehrung der eigenen Gene. Dieser Zusammenhang wird vor allem in sozialen Verhältnissen spürbar, in denen die sozialen Eltern nicht die biologischen sind, in Familien mit Adoptivkindern, Stiefkindern oder ungeklärten Vaterschaftsverhältnissen.Abgesehen von eindeutig ausbeuterisch motivierten Adoptionen, in denen fremde Kinder zur Familienökonomie beitragen und so einen Nettonutzen für die Adoptiveltern erwirtschaften, werden von Liebe und Fürsorge getragene Adoptionen immer wieder als Argumente gegen die Nützlichkeit der evolutionsbiologischen Sichtweise bei der Analyse menschlichen Fortpflanzungsverhaltens vorgebracht. Schließlich widerspricht es jeder evolutionären Theorie des Sozialverhaltens, dass sich Menschen willentlich altruistisch gegenüber fremden Kindern verhalten. Bei genauerer Betrachtung beschränkt sich dieses erklärungsbedürftige Phänomen auf die westlichen Industrienationen, während die Adoptionssysteme traditioneller Gesellschaften recht gut mit der Wirkweise der Verwandtenselektion im Einklang stehen. Kinder werden hier vorrangig nach Maßgabe genetischer Verwandtschaft adoptiert, wobei nicht selten alle Beteiligten — die Adoptiveltern, die Adoptivkinder und die leiblichen Eltern — von diesem System profitieren.Wesentlich problematischer ist es hingegen, die anonymen Fremdadoptionen in den Industriestaaten in eine biologische Theorie des Sozialverhaltens einzuordnen. Das menschliche Brutpflegesystem motiviert offensichtlich dermaßen stark zu elterlichem Fürsorgeverhalten, dass es auch in Situationen seinen Ausdruck sucht, in denen es sich nicht entwickelt haben kann. Ein starker Pflegetrieb ist sicherlich im Mittel hochgradig angepasst. Auch wenn er sich heute gelegentlich quasi am »falschen Objekt« festmacht, fördert er doch im Regelfall die persönliche Fortpflanzung. Sicherlich erklären sich auch einige Phänomene der Schoßtierhaltung psychologisch aus einem »umgeleiteten«, weil zunächst nicht befriedigten Fürsorgebedürfnis. Wie dem auch sei — Adoptiveltern sind ihrerseits meist selbst kinderlos. Genau genommen gehen sie keine biologischen Kosten ein, weil bei Sterilität die Annahme eines fremden Kindes nicht mit einer Einbuße persönlichen Reproduktionspotenzials einhergeht. Wirklich fatal für eine evolutionäre Theorie des menschlichen Sozialverhaltens wäre es hingegen, wenn Menschen regelmäßig und ohne irgendeinen persönlichen Nutzen daraus zu erzielen, fremde Kinder auf Kosten eigener großzögen. Das wäre in der Tat eine Form von genetischem Altruismus, für den die Verhaltensforschung bisher aber noch kein überzeugendes Beispiel geliefert hat.Anders als bei Adoptionen steht bei Stiefverhältnissen nicht der Wunsch nach einem Kind im Vordergrund, sondern der Wunsch nach einem Partner beziehungsweise einer Partnerin. Kinder aus früheren Beziehungen müssen damit rechnen, vom Stiefvater oder der Stiefmutter lediglich in Kauf genommen worden zu sein und letztlich von ihnen ungeliebt zu bleiben. Der ultimate Grund hierfür ist leicht einsichtig, sind doch menschliche Familien primär auf die persönliche Fortpflanzung angelegte kooperative Systeme, in denen sich die im Laufe der Evolution entwickelten Interessen der Beteiligten treffen. Im Regelfall teilen deshalb Eheleute die Sorge um das Wohlbefinden ihrer gemeinsamen Kinder, denn diese vereinigen die Fitnesserwartungen beider Elternteile auf sich. Gemeinsame Kinder werden daher eher zur Harmonisierung einer Beziehung beitragen als zu deren Bruch.Bei Stiefkindern bündeln sich jedoch tiefgründige, in der Reproduktionsstrategie begründete Konflikte. Durch die natürliche Selektion konnte sich kein Motivationssystem bilden, das uns — gleichsam »von Natur aus« — bei genetischer Verwandtschaft gegenüber allen Kindern gleich verhalten lässt, weil das ihrem genzentrierten Prinzip zuwiderlaufen würde. Resultat ist ein mehr oder weniger latentes Konfliktpotenzial gerade in Stieffamilien, dessen Beherrschung und Kontrolle bekanntlich nicht immer gelingt. Die alltägliche Ausdrucksform dieses Widerspruchs lässt sich auf eine einfache Formel bringen: Der biologische Elter will mehr in seine Kinder aus erster Ehe investiert wissen, als der Stiefelter freiwillig zu leisten bereit ist.Unschuldige Opfer der strukturell widersprüchlichen Reproduktionsinteressen in Stieffamilien sind vor allem aber die Stiefkinder selbst. Was die Volksweisheit lehrt, ist inzwischen empirisch untermauert. Dabei sind es traditionelle, historische wie moderne Gesellschaften, in denen Stiefkinder durch Ausbeutung und Misshandlung überdurchschnittlich gefährdet sind. Das Risiko für Stiefkinder, von einem ihrer Stiefeltern getötet zu werden, ist um ein Vielfaches höher als das Risiko für biologische Kinder, von ihren leiblichen Eltern umgebracht zu werden. Dabei ist tödliche Gewalt zweifellos die spektakuläre Spitze eines sonst eher in Privatsphären verborgenen Eisbergs an alltäglicher Aggression und Gleichgültigkeit, dessen Hintergrund lautet: Verringerung der Fürsorge in nichtverwandte Kinder. Auch ungeklärte Vaterschaftsverhältnisse wirken sich auf menschliche Familien destabilisierend aus. So bilden überall auf der Welt — in traditionellen wie in modernen Gesellschaften — männliche Monopolisierungsansprüche in Verbindung mit Mutmaßungen über weibliche Untreue das bei weitem häufigste Motiv für innereheliche Gewalt gegen Frauen.Sexuelle FreizügigkeitEs gibt einige wenige Völker, die eine bemerkenswerte sexuelle Freizügigkeit ausleben. Die in Südindien lebenden Nayar gehören beispielsweise dazu, von denen die ersten westlichen Ethnographen zu berichten wussten, dass die Frauen gewöhnlich zwischen drei und zwölf Liebhaber gleichzeitig haben. Zwangsläufige Folge der sexuellen Promiskuität sind weitgehend ungeklärte Vaterschaftsverhältnisse. Nach der bisherigen Argumentation wäre deshalb für die Nayar ein überaus spannungsgeladenes Verhältnis zwischen den Geschlechtern zu erwarten, gekennzeichnet durch einen ständigen Konflikt zwischen männlichen Machtansprüchen und weiblichen Autonomieansprüchen. Das scheint aber nicht der Fall zu sein, was im Wesentlichen sicherlich an der Verweigerung der Vaterrolle durch die Männer liegt. Sie investieren nichts in die Kinder ihrer Frau, und lösen damit den ultimat angelegten Konflikt zwischen Vaterschaftsunsicherheit und Investmentbereitschaft auf eine ungewöhnlich radikale Art und Weise. Stattdessen vererben sie ihre materiellen Güter und gegebenenfalls ihren sozialen Rang an die Kinder ihrer Schwestern. Dass dieses Verhalten im Durchschnitt die reproduktive Fitness steigert, verdeutlicht das Modell des Verwandtschaftsgrades von Richard Alexander.Unter Bedingungen sexueller Freizügigkeit findet man in den weltweit verbreiteten matrilinealen (mutterrechtlichen) Gesellschaften das Avunkulat vor, jene institutionalisierte Einrichtung, dass der Bruder der Mutter für deren Kinder einen Großteil an Verantwortung und Verpflichtungen übernimmt. Nebenbei: Auch die deutsche Sprache unterscheidet nicht zufällig zwischen dem »Oheim«, dem Mutterbruder, zu dem ein besonderes Vertrauensverhältnis besteht, und dem »Onkel«. Schon Tacitus wusste von den Germanen zu berichten: »Sororum filiis idem apud avunculum qui apud patrem honor« (Die Söhne der Schwestern sind dem Oheim ebenso teuer wie ihrem Vater).Der amerikanische Anthropologe Mark Flinn teilte 288 Völker in fünf Gruppen unterschiedlich hoher Vaterschaftswahrscheinlichkeit ein und ordnete sie anschließend nach der Art des jeweils vorherrschenden Ressourcentransfers zwischen den Generationen. Er unterschied zwischen eher agnatischen Gesellschaften, in denen das materielle Erbe in durch männliche Blutsverwandtschaft definierten Bahnen verläuft, von den eher uterinen Gesellschaften, in denen über die weiblichen Verwandschaft vererbt wird. Das Ergebnis steht in vollem Einklang mit soziobiologischen Erwartungen für den Zusammenhang von männlicher Investmentbereitschaft und Vaterschaftswahrscheinlichkeit: Je niedriger diese im Durchschnitt ist, desto spärlicher fließen die Erbschaften über männliche Linien und desto bedeutsamer werden die Kinder der Schwestern in den Erbfolgen (Avunkulat). Je geringer also die Aussichten auf direkte Fitnessmaximierung sind, desto vorrangiger werden Optionen des indirekten Investments genutzt.Vitalität als begrenzender FaktorEs ist leicht nachvollziehbar, dass ein starker Selektionsdruck gegen eine Investmentstrategie wirken muss, die Eltern dazu motiviert, gleich viel in die Aufzucht aller ihrer Nachkommen zu stecken, unabhängig davon, wie lebensfähig diese in der arteigenen Lebensumwelt eigentlich sind. Der Selektionsdruck ist offensichtlich dermaßen hoch, dass ein nach Lebenstauglichkeit differenzierendes Investment meist schon sehr früh in der Schwangerschaft zum Tragen kommt und dann häufig zur Beendigung des Elternaufwands führt. Schätzungen gehen davon aus, dass über 50 Prozent aller menschlichen Schwangerschaften spontan abgehen. Die frühzeitige Beendigung des Elterninvestments wäre demnach in der Reproduktionsbiologie der Menschen die Regel und nicht die Ausnahme.Diese Tatsache beruht auf einem »Filtermechanismus«, der Frauen davor bewahrt, hohe Investmentkosten einzugehen, weil das heranwachsende Kind, zum Beispiel wegen genetischer Schäden, nicht bis zur Geschlechtsreife überlebensfähig wäre und deshalb keine Aussicht auf eigene Fortpflanzung besitzt. Anstatt wegen 40 Wochen Schwangerschaft und zwei bis drei Jahre Stillens (was historisch wohl die Regel gewesen sein dürfte) insgesamt rund drei bis vier Jahre fruchtbare Lebenszeit in die Entwicklung einer befruchteten Eizelle ohne eigene Fortpflanzungsaussichten zu investieren, ermöglicht eine frühe Fehlgeburt die rasche Wiederaufnahme des Eisprungs und minimiert so die Kosten der mütterlichen Fehlinvestition. Evolutionstheoretisch ist es durchaus stimmig, wenn Gynäkologen feststellen, dass es umso früher zu spontanen Fehlgeburten kommt, je schwerwiegender die Fehler im Entwicklungsprogramm der befruchteten Eizelle sind und je früher der mütterliche Organismus das erkennen kann.Daher ist ein nach der Gesundheit der Kinder sich ausrichtendes unterschiedliches Investment der Eltern eher ein physiologisches als ein Verhaltensphänomen. Wenn dennoch Kinder behindert zur Welt kommen, zeigt sich auch im Verhaltensbereich ein diskriminierendes elterliches Investment: Behinderte sind einer überdurchschnittlichen Gefahr ausgesetzt, von ihren Eltern vernachlässigt, misshandelt oder gar umgebracht zu werden. In den USA ist ein solches Risiko für Kinder mit angeborenen Fehlbildungen, etwa einer offenen Wirbelsäule, Kiefer-Gaumen-Spalte und Down-Syndrom, rund doppelt so hoch wie für körperlich unauffällige Kinder. Andere Studien weisen teilweise noch deutlich höhere Risiken aus.Die Psychologin Janet Mann beobachtete das unterschiedliche Fürsorgeverhalten von US-Amerikanerinnen, die früh geborene, untergewichtige Zwillinge zur Welt gebracht hatten, um der Frage nachzugehen, welches Zwillingskind mehr mütterliche Aufmerksamkeit und Zuwendung erfährt. Es könnte etwa jenes sein, welches am meisten schreit und Bedürftigkeit signalisiert, weil es die mütterlichen Pflegeinstinkte am besten wecken kann oder welches durch ein babyhaft-freundliches Verhalten der Mutter am meisten Freude bereitet und sie narzisstisch belohnt. Es könnte aber auch dasjenige sein, welches die meisten Entwicklungsdefizite aufweist, weil die Mütter motiviert sind, besondere Handicaps zu kompensieren, oder welches am gesündesten erscheint. Wenngleich an einer zwangsläufig geringen Stichprobe erhoben, sind Janet Manns Daten in ihrem Trend eindeutig: In allen fünf untersuchten Familien genoss der jeweils gesündere Zwilling, unabhängig von seinem Verhalten, eine mütterliche Bevorzugung. Dies deutet auf einen psychischen Mechanismus im menschlichen Brutpflegesystem, der die Lebens- und Fortpflanzungsfähigkeit der eigenen Kinder prüft und danach das elterliche Engagement abmisst. Drohen Investitionen in Kinder mit verminderten Lebens- und Fortpflanzungschancen mehr elterliches Reproduktionspotenzial zu binden als sie an Fitnessgewinn einbringen, sind Eltern eher bereit, ihr Investment zu beenden, als bei Kindern mit guter physischer Verfassung, die ein viel versprechender Hoffnungsträger sind, ihr eigenes Erbgut weitergeben zu können. Mütter von frühgeborenen oder behinderten Kindern müssen deshalb in besonderem Maße psychische Arbeit leisten, um ihre Rolle anzunehmen.Söhne oder Töchter? Wen lieben Eltern mehr?Von einigen interessanten Ausnahmen abgesehen, investieren die Arten etwa gleich viel in die Zeugung und Aufzucht von Männchen und Weibchen, was sich in einem annähernd ausgeglichenen Geschlechterverhältnis niederschlägt. Eine die Sexualproportion verschiebende »Mutation« hätte auf Dauer keine Chance, in der Evolution Bestand zu haben, weil angesichts zweigeschlechtlicher Fortpflanzung der durchschnittliche Reproduktionserfolg von Männchen und Weibchen gleich hoch sein muss.Das fishersche Prinzip der GeschlechterproportionenMan kann sich das in einem Gedankenexperiment leicht vergegenwärtigen: Angenommen, aufgrund einer zufälligen Laune der Natur würden Männchen und Weibchen im Verhältnis von 1 : 10 geboren. Wenn das eine Männchen sich mit allen zehn Weibchen fortpflanzt, ist sein Reproduktionserfolg zehnmal größer als der jedes einzelnen Weibchens. Wären Männchen und Weibchen in der »Herstellung« gleich teuer, könnten Mütter ihren Reproduktionserfolg verzehnfachen, wenn sie anstatt eine Tochter zu produzie- ren, einen Sohn großzögen. Eine Tochter brächte ja für sie nur einen Enkel, ein Sohn hingegen zehn. Ein starker Selektionsdruck würde dafür sorgen, dass sich der Anteil der Söhne produzierenden Mütter in der Population ausbreitete, bis schließlich die Sexualproportion wieder das 1 : 1-Verhältnis angenommen hätte.Diese Einsicht geht auf den Populationsgenetiker Ronald Fisher zurück. Jede Abweichung von dem ausbalancierten Mengenverhältnis der beiden genetischen Lebensstrategien »männlich« und »weiblich« würde von der natürlichen Selektion korrigiert. Genau genommen macht das von Fisher gefundene Prinzip jedoch eine präzisere Vorhersage als die einer ausgeglichenen Geschlechterrelation. Korrekt formuliert lautet es: Diejenige Sexualproportion ist in der Evolution stabil, bei der der Fitnessertrag pro Einheit Investment in Söhne beziehungsweise Töchter gleich hoch ist. Man beachte, dass damit die Frage der geschlechtstypischen Kosten-Nutzen-Bilanz in den Vordergrund rückt. Das 1 : 1-Verhältnis ist — wenngleich häufig beobachtet — letztlich nur ein Spezialfall des fisherschen Prinzips und gilt nur bei gleich hohen Investmentkosten für Söhne und Töchter.Angenommen bei einer Art ist es doppelt so teuer einen Sohn aufzuziehen wie eine Tochter, dann müsste der männliche Reproduktionserfolg im Durchschnitt doppelt so groß sein wie der weibliche, damit sich ein Sohn lohnt. Das erfordert ein effektives Geschlechterverhältnis von 1 : 2, was aber wiederum bedeutet, dass das Gesamtinvestment in beide Geschlechter gleich groß ist. Der doppelt so hohe Preis wird durch die halbe Produktionsmenge kompensiert, sodass der Gesamtaufwand für beide Geschlechter auch unter den 1 : 2-Bedingungen gleich hoch ist. Nach Robert Trivers lässt sich das so ausdrücken: Wenn das Produkt aus den Investmentkosten zur Zeugung und Aufzucht eines Männchens und der Zahl der Männchen gleich groß ist wie die Investmentkosten für die Zeugung und Aufzucht eines Weibchens multipliziert mit der Zahl der Weibchen, dann ist der Gesamtaufwand in beide Geschlechter gleich. Solch ein ausbalancierter Zustand wird von der natürlichen Selektion gefördert und äußert sich in der häufig zu beobachtenden Geschlechterparität. Beispielsweise weisen neugeborene Schwarze Klammeraffen ein Verhältnis von 37,5 Männchen zu 100 Weibchen auf. Gemäß des fisherschen Prinzips kann allein aufgrund dieses Befunds vorhergesagt werden, dass das seltenere Geschlecht mehr Investment erfordert. Tatsächlich werden männliche Nachkommen 36 Monate gestillt, weibliche hingegen nur 29. Auch werden männliche Nachkommen nach der Geburt signifikant länger von ihren Müttern getragen. Männliche Nachkommen sind also in der Aufzucht teurer, und entsprechend seltener wird in sie investiert.Die relativen Kosten für Söhne und Töchter werden unter anderem auch durch eine geschlechtstypische Säuglings- und Kindersterblichkeit beeinflusst. Wenn regelmäßig mehr männliche als weibliche Nachkommen vor ihrem Erwachsenwerden sterben (wie bei Menschen), ist der durchschnittliche Aufwand für jeden geborenen Sohn geringer als für jede geborene Tochter. Andererseits ist jeder erfolgreich großgezogene Sohn teurer geworden als jede erfolgreich großgezogene Tochter, weil ja der Aufwand für die vorzeitig gestorbenen Nachkommen mitbilanziert werden muss. Beobachtet man zu irgendeinem Zeitpunkt während der Elterninvestmentphase eine zu einem Geschlecht hin verschobene Sexualproportion, kann nach dem fisherschen Prinzip eine Übersterblichkeit dieses Geschlechts bis zum Ende des Elterninvestments prognostiziert werden. So erklärt sich evolutionsbiologisch der für alle menschlichen Gesellschaften typische Jungenüberschuss bei den Geborenen von rund 106 Jungen auf 100 Mädchen und die erhöhte Jungensterblichkeit im ersten Lebensjahr.Die elterliche InvestmentstrategieFishers Prognose eines ausgeglichenen Investments in beide Geschlechter gilt allerdings nur für Betrachtungen auf Populationsebene. Innerhalb einer Population kann es für einzelne Individuen durchaus vorteilhaft sein, auf Kosten des einen vermehrt in das andere Geschlecht zu investieren, weil das unterschiedliche Reproduktionspotenzial der beiden Geschlechter je nach Lebenssituation unterschiedlich effektiv genutzt werden kann. Die Biologen Robert Trivers und Dan Willard veröffentlichen 1973 hierzu eine grundlegende Hypothese, die auf folgender Überlegung beruht: Wegen der Wirkweise der sexuellen Selektion ist die Varianz im Reproduktionserfolg bei demjenigen Geschlecht größer, das weniger in jeden einzelnen Nachkommen investiert, in der Regel also bei Männchen. Das gilt nicht nur für viele Tierarten, sondern auch für Menschen. Je größer aber die Varianz, desto günstiger wirken sich gute und desto nachteiliger wirken sich schlechte Lebens- und Reproduktionschancen auf die Fitness aus. Daher sollten Männer, das Geschlecht mit den höheren Unterschieden bei der Fortpflanzung, solange sie unter guten Bedingungen leben, ihren Reproduktionserfolg mehr steigern können als Frauen. Unter ungünstigen Bedingungen werden dagegen Frauen im Mittel einen höheren Reproduktionserfolg erzielen als Männer. Das Verhältnis des durchschnittlich zu erwartenden Reproduktionserfolgs von Frauen und Männern kehrt sich also mit verbesserten Lebensbedingungen um.Daraus ergeben sich Konsequenzen für die Aufteilung des Elterninvestments. Wenn die Wahrscheinlichkeit, mit der die Nachkommengeneration aus den guten Lebensbedingungen der Eltern einen Fitnessvorteil gewinnen kann, hinreichend groß ist, sollten Eltern unter günstigen Lebensbedingungen in das Geschlecht mit der höheren Varianz, also in Jungen, investieren. Ihr Investment hätte dann den größtmöglichen Effekt. Für schlechter gestellte Eltern ist es dagegen Gewinn bringend, in das Geschlecht mit der geringeren Varianz, also in Mädchen, zu investieren. Damit umgehen sie das Risiko, in ein Individuum zu investieren, das höchstwahrscheinlich in seinem Reproduktionserfolg weit unterdurchschnittlich abschneiden wird, zum Beispiel weil es auf dem Heiratsmarkt gegen die Konkurrenten unterliegen wird. Der Kern der Trivers-Willard-Hypothese lautet demzufolge, dass sich das elterliche Investment bevorzugt auf jenes Geschlecht konzentriert, das in einer gegebenen ökologischen Situation wahrscheinlich die meisten Nachkommen haben wird.Beispiele für die Trivers-Willard-HypotheseDie Trivers-Willard-Hypothese erwies sich als äußerst fruchtbar für die daraufhin einsetzende empirische Forschung, und inzwischen sind aus dem Tierreich zahlreiche Fallbeispiele für die Gültigkeit ihrer Voraussagen bekannt geworden, etwa bei Rothirschen und Berberaffen, bei denen sozial hochrangige Weibchen signifikant mehr männliche Nachkommen gebären.Bei den Menschen sprechen ebenfalls einige Hinweise dafür, dass Frauen das Geschlecht ihrer Kinder nach Maßgabe der Lebensumstände — ganz im Sinn der Trivers-Willard-Hypothese — beeinflussen können. So gebären Frauen, die mit hochrangigen Männern verheiratet sind (zum Beispiel die mit Männern verheiratet sind, die im Who's Who verzeichnet sind) verblüffenderweise mehr Söhne. Der steuernde physiologische Mechanismus ist jedoch noch nicht identifiziert. Zwar gibt es zahlreiche Hinweise dafür, dass die Geschlechterrelation hormoneller Kontrolle unterliegt, jedoch gibt der genaue Mechanismus noch reichlich Rätsel auf.Die erste Studie zum nachgeburtlich unterschiedlichen Elterninvestment bei Menschen, welche die spätere Forschung nachhaltig beeinflusste, stammt von der amerikanischen Anthropologin Mildred Dickemann und hat die soziologische Verteilung von Mädchenmorden in der präkolonialen nordindischen Gesellschaft zum Inhalt. Während hochrangige Kasten in Zeiten vor der englischen Kolonisation die überwiegende Zahl ihrer neugeborenen Mädchen umbrachten, taten das die Angehörigen der niederen Kasten nicht. Das Heiratssystem ist die Ursache für diesen Unterschied. Während niederrangige Töchter — wenngleich mit enormen Mitgiftzahlungen — »nach oben« verheiratet werden konnten, sich mit dem Aufziehen von Töchtern also viel versprechende Aussichten auf höherrangige Enkel verbanden, waren die Töchter aus »gutem Hause« mangels geeigneter aufwärts orientierter Heiratsoptionen zum Zölibat verdammt. Mildred Dickemann dehnte ihr Modell auf andere geschichtete Feudalgesellschaften wie das kaiserliche China oder das mittelalterliche Europa aus. Hier wurden hochrangige Töchter häufig in Klöster geschickt, um deren Reproduktionspotenzial zugunsten söhneorientierter Familieninteressen zu neutralisieren.Der amerikanische Anthropologe James Boone untersuchte die Reproduktionsstrategien portugiesischer Elitefamilien des 15. und 16. Jahrhunderts. Danach sicherte sich der Hochadel seinen langfristigen sozialen wie auch den damit einhergehenden reproduktiven Erfolg durch die Patrilinearität: Landbesitz und Titel wurden traditionell nahezu ausschließlich an männliche Nachkommen vererbt. Ein sozialer Abstieg, etwa als Folge einer Besitzaufteilung, kam einem Untergang der Familie gleich und sollte unter allen Umständen vermieden werden. Statuserhalt war die beherrschende Lebensmaxime, um die sich die gesamte Familienpolitik drehte.Der niedere Adel erlangte dagegen seinen Reproduktionserfolg über eine Hypergamie der Töchter. Er versuchte die Töchter in eine Hochadelsfamilie einheiraten zu lassen. Die Heiratschancen von Söhnen aus der oberen Sozialgruppe lagen über denen ihrer Schwestern und auch über denen der Söhne des niederen Adels. Die Heiratschancen der Töchter dagegen stiegen mit abnehmenden Adelsrang deutlich an. Erwartungsgemäß fand sich auch hier der Trend, in den weniger einflussreichen Familien eher in die Töchter und in den besser gestellten eher in die Söhne zu investieren. Das spiegelte sich in ihrem Schicksal als Erwachsene wider: Im Hochadel wurden signifikant mehr Töchter (etwa 40 Prozent im Vergleich zu weniger als 30 Prozent im niederen Adel) als Nonnen in Klöster geschickt und damit die hohen Kosten einer Mitgift umgangen. Niederrangige Familien waren viel eher bereit, erheblich mehr zu investieren, um ihre Töchter zu verheiraten. Unter den Söhnen war der Anteil derjenigen, die zum Militär geschickt wurden und infolgedessen bei Kriegszügen einem wesentlich höheren Sterberisiko ausgesetzt waren, für den oberen Adel vergleichsweise gering, und stieg nach unten hin an. Boone interpretiert dies als Ausdruck einer differenziellen Investmentstrategie der Elitefamilien, um ihren genetischen und sozialen Fortbestand zu sichern.Ein Beispiel für ein den Lebensumständen entsprechendes geschlechtsorientiert differenzielles Elterninvestment in traditionellen Gesellschaften stammt vom amerikanischen Anthropologen Lee Cronk, der die Lebensweise der Mokodogo, eines kleinen Hirtenvolks in Kenia, untersuchte. Ihre Demographie ähnelt in vielen Merkmalen anderen traditionellen afrikanischen Gesellschaften, zeigt jedoch in einer Hinsicht eine auffällige Abweichung. Unter den jüngeren Kindern herrscht ein beachtlich hoher Mädchenüberschuss vor. 1986 befanden sich unter den bis zu vierjährigen Kindern 98 Mädchen, aber nur 66 Jungen, ein statistisch signifikanter Unterschied. Diese Abweichung konnte Cronk anhand seiner Daten auf eine stärker auf Mädchen hin ausgerichtete elterliche Fürsorge zurückführen. Die Bevorzugung drückte sich unter anderem darin aus, dass Mädchen weit häufiger zur medizinischen Behandlung in eine Missionsstation gebracht wurden als Jungen, was sowohl mit erheblichem zeitlichem als auch finanziellem Aufwand verbunden war.Die Mokodogo sind im Vergleich zu den umliegenden Bevölkerungsgruppen arm. Da sie erst kürzlich ihr Wildbeuterdasein aufgegeben haben, ist ihre heutige soziale Anerkennung durch ihre Nachbargruppen relativ gering geblieben. Sie stehen damit am unteren Ende einer sozialen Hierarchieskala. Etwa ab 1900 begannen die Mokodogo, ihre Heiratskreise auf die benachbarten Stämme auszudehnen. Da Frauen eher die Möglichkeit haben, in Nachbarstämme einzuheiraten, besteht seither unter den Mokogodo selbst ein ständiger Bedarf an heiratsfähigen Frauen. Infolgedessen und wegen ihrer Armut bleiben viele der Mokodogo-Männer ledig, nicht zuletzt weil die Brautpreise für nicht den Mokodogo angehörige Frauen deutlich höher sind und für viele unbezahlbar bleiben. Mokodogo-Frauen erzielen deshalb im Durchschnitt einen höheren Reproduktionserfolg als Männer. Die durchschnittliche Anzahl überlebender, mindestens 15-jähriger Kinder liegt für Frauen mit circa vier statistisch signifikant höher als für Männer. Hier liegt sie im Mittel bei drei, und wir finden eine der Trivers-Willard-Hypothese entsprechende Schiefe im elterlichen Investment zugunsten der Töchter.Aber selbst in modernen Industriegesellschaften sind Trivers-Willard-Effekte nachzuweisen. Die konstitutionsbedingte größere Sterblichkeitsrate männlicher Säuglinge nimmt in den USA mit der Stellung der Eltern in der Sozialhierarchie ab, was im Sinne der Trivers-Willard-Hypothese als ein vermehrtes Investment einkommensstarker Eltern in ihre Söhne interpretiert werden kann. Steven Gaulin und C. Robbins verglichen mütterliches Pflegeverhalten gegenüber männlichen und weiblichen Kleinkindern in den USA. Die Intensität der Fürsorge wurde daran gemessen, wie lange und wie häufig noch gestillt wurde, wenn bereits ein jüngerer Säugling anwesend war, sowie an der Länge des Zeitintervalls bis zur Geburt des folgenden Kindes. Je kürzer das Intervall, desto geringer die Investmentbereitschaft in das bereits vorhandene Kind. Indikatoren für die Qualität der Lebensbedingungen waren das Haushaltseinkommen (unter 10 000 $, beziehungsweise über 60 000 $ pro Jahr) und die Zusammensetzung des Haushaltes (An- oder Abwesenheit eines erwachsenen Mannes). Die Autoren konnten für beide Indikato- ren der Lebensqualität unabhängige, statistisch signifikante Effekte nachweisen. Sowohl die Abwesenheit eines erwachsenen Mannes im Haushalt als auch ein Haushaltseinkommen von unter 10 000 $ hatten deutliche negative Auswirkungen auf das Investment in Söhne. In Haushalten mit niedrigem Einkommen wurden Söhne seltener als Töchter gestillt. Dort war das Geburtenintervall bis zum folgenden Kind nach Söhnen geringer. In Haushalten mit hohem Einkommen verhielt es sich umgekehrt. Lebte kein erwachsener Mann im Haushalt, wurden Söhne weniger und kürzer gestillt und war das Geburtenintervall nach Söhnen kürzer. In Haushalten, in denen ein erwachsener Mann lebte, verhielt es sich wiederum umgekehrt.Die Beispiele ließen sich mühelos durch weitere ergänzen. Insgesamt weisen sie darauf hin, dass die Trivers-Willard-Hypothese offenbar einen hohen Erklärungswert für eine gegebenenfalls unterschiedliche Behandlung von Söhnen und Töchtern hat: Unter sonst gleichen Bedingungen motiviert unser biologisch entwickeltes Brutpflegesystem zu vermehrtem Investment in Kinder mit jenem Geschlecht, das unter den jeweils gegebenen Lebensbedingungen die besseren Reproduktionsaussichten verspricht. Demnach bevorzugen Eltern »reproduktive Hoffnungsträger«.Die Situation in der KrummhörnInteressanterweise gibt es auch Befunde, die auf den ersten Blick gar nicht ins Bild passen wollen. In der ostfriesischen Krummhörn nordwestlich von Emden beispielsweise starben im 18. und 19. Jahrhundert in den Bauernfamilien relativ mehr Jungen als Mädchen, als aufgrund der anlagebedingten größeren Sterblichkeitsrate männlicher Säuglinge rein statistisch zu erwarten gewesen wäre. Dass die Krummhörner Bauern männliche Säuglinge im Schnitt schlechter versorgten als weibliche, wäre evolutionsbiologisch verständlich, denn die Daten belegen, dass die Möglichkeiten zur Fortpflanzung von Töchtern der großbäuerlichen Besitzelite weit besser waren als diejenigen der Söhne. Töchter hatten wesentlich höhere Heiratschancen als Söhne und waren nicht wie ihre Brüder durch Statuserwartungen daran gebunden, ihre eigene Familie in derselben Schicht zu gründen, der ihre elterliche Familie angehörte. Darüber hinaus wurden sie mit einem geringeren Erbe abgefunden als Söhne, waren also in rein ökonomischer Hinsicht billiger. Da die Krummhörn im Westen durch die Nordsee begrenzt und zum Landesinneren hin durch einen Geest- und Moorgürtel umgeben ist, war das fruchtbare Marschland recht bald bis an seine Grenzen kultiviert und in Besitzungen aufgeteilt worden. Es handelt sich ökologisch gesehen um ein gesättigtes Siedlungsgebiet. Die Zahl der Hofstellen blieb über Jahrhunderte praktisch unverändert, beziehungsweise sank sogar leicht ab.Die Vererbung einer Hofstelle erfolgte in der Regel nach dem Jüngstenanerbenrecht, der Landbesitz ging ungeteilt an den jüngsten Sohn über. Die restlichen Geschwister wurden ausbezahlt. So konnte sehr häufig nur der den Betrieb erbende Sohn seinerseits ein Großbauerndasein führen. Das ganze sozioökologische Szenario muss so zwangsläufig zu Konkurrenz unter den Großbauernsöhnen um Lebens- und Reproduktionschancen geführt haben. Tatsächlich nahmen ihre Heirats- und Fortpflanzungsmöglichkeiten mit der Anzahl der Geschwister gleichen Geschlechts rapide ab.Man hat diese Situationen, die in durchaus vergleichbarer Form auch aus dem Tierreich bekannt sind, als »local resource competition«-Szenerie beschrieben. Viele Arten, vor allem unter Vögeln und Säugetieren (hier besonders unter Primaten), reagieren auf solche ökologisch beengten Bedingungen durch ein differenzielles Elterninvestment, um innerhalb der eigenen Nachkommenschaft eine Konkurrenzminimierung zu erreichen. Würden sich die Nachkommen einer Familie untereinander Konkurrenz machen (oder in Konkurrenz zu ihren Eltern treten), weil alle Beteiligten auf dieselben begrenzten Ressourcen angewiesen sind, würde das die elterliche Fitness drücken und deshalb das Aufziehen dieses Geschlechts verteuern. Nach Fishers Prinzip sollten jedoch die erhöhten Pro-Kopf-Kosten durch eine geringere Nachkommenzahl ausgeglichen werden. Die Krummhörner Marschbauern verhielten sich nach diesem Prinzip, indem sie die Anzahl der männlichen, Kapital verbrauchenden Erben begrenzten und so im Interesse einer Ressourcenkonzentration und einer Bündelung der Fortpflanzungschancen die Konkurrenz unter ihren Kindern entschärften.Wenn es aber unter ökologisch gesättigten und demographisch stagnierenden Bedingungen wie in der Krummhörn darum gehen muss, die Anzahl möglicher Erben niedrig zu halten, um einen ökonomisch profitablen Hof zu erhalten, der der Verdrängungskonkurrenz standhält und so letztlich dem erfolgreichen Fortbestand der eigenen Linie dient, kann man erwarten, dass sich Reproduktionsstrategien herausbilden, die ihrem Wesen nach »konditional« sind, das heißt sehr sensibel auf die jeweils vorherrschende Lebenssituation reagieren, und in denen die Zahl der bereits in den Bauernfamilien lebenden Söhne und Töchter für die Eltern ein entscheidendes Kriterium für den Umfang ihres Investments in jedes weitere Kind ist. Genau das finden wir in der Krummhörn vor: Während die Überlebenschancen aller Landarbeitersöhne gleich gut (oder gleich schlecht) waren, stieg demgegenüber das Sterberisiko der Bauernsöhne mit der Anzahl ihrer Brüder kontinuierlich an. Mit drei oder mehr lebenden Brüdern erreichte ihr Sterberisiko fast das Doppelte der Landarbeitersöhne.Das Investment der Bauern (nicht aber der Landarbeiter) in männlichen Nachwuchs unterlag einem »Gesetz abnehmender Skalenerträge« (»law of diminishing returns«): Mit jedem weiteren zusätzlich zum Erben überlebenden Sohn erhöhten sich zwar die »Reproduktionskosten« (allein schon wegen des zusätzlichen Erbteils), während der »Nutzen« jedes weiteren Kindes (gemessen in Einheiten reproduktiver Fitness) nicht im gleichen Maße anstieg. Eine verringerte Heiratswahrscheinlichkeit und eine erhöhte Emigrationsrate verminderten jedoch die Fitnesserwartungen, die Bauerneltern mit jedem weiteren Sohn verbinden konnten. Entsprechend nahm das reproduktive Interesse an diesen Kindern kontinuierlich ab.Die Beispiele unterscheidender elterlicher Fürsorge sollten exemplarisch deutlich gemacht haben, dass je nach Situation, differenzierte Handlungsweisen von Menschen im Spannungsfeld evolvierter Lebens- und Reproduktionsinteressen einerseits und ökologisch-ökonomisch eingeengter Handlungsspielräume andererseits entstehen. Die Soziobiologie versucht beides zu betrachten und aufeinander zu beziehen; die Weise, wie der Genegoismus sich in den Merkmalen und verhaltenssteuernden Mechanismen der Individuen zeigt, sowie die flexiblen Lösungen, die an bestimmte Situationen angepasst sind. Auch Mutterliebe — obwohl sie psychologisch gesehen zweifellos altruistisch und selbstaufopfernd geschieht — ist genegoistisch und strategisch, also auf die situationsbedingt maximal mögliche Effizienz ausgerichtet. Sie dosiert Fürsorge und Aufmerksamkeit gemäß persönlicher Reproduktionsinteressen und funktioniert keineswegs nach einem verteilungsblinden Gießkannenprinzip. Der verhaltenssteuernde Apparat folgt dabei zwei Maximen: Nutzenmaximierung elterlicher Fürsorge durch Bevorzugung reproduktiver Hoffnungsträger bei gleichzeitiger Kostenminimierung durch Benachteiligung zu teurer Nachkommen.So paradox es erscheinen mag: Elterliche Liebe und Fürsorge auf der einen und Kindesvernachlässigung, einschließlich Abtreibung oder Tötung, auf der anderen Seite sind Ausdruck derselben konditionalen Elternstrategie und dienen demselben genegoistischen Zweck. In beidem zeigt sich das biogenetische Prinzip Eigennutz. Die beteiligten Emotionen — Liebe, Sorge, Gleichgültigkeit, Hass — regulieren als Wirkmechanismen der Verhaltenssteuerung zwar ganz unmittelbar unsere sozialen Tendenzen, doch werden sie ihrerseits von den im Laufe der Evolution entwickelten Reproduktionsinteressen reguliert. Deshalb können sie menschliches Verhalten nur sehr eingeschränkt erklären. So ist Mutterliebe, oder ihr Mangel, eher Folge eines Interesses oder Desinteresses am Kind, weniger deren Ursache.Aus beidem, dem historischen und dem kausalen Aspekt der biologischen Evolution, legitimiert sich ein methodisch reflektierter Vergleich des Verhaltens zwischen Tieren und Menschen. Vor allem der historische Aspekt begründet das anthropologische Interesse an der Primatenforschung. Aber auch wegen des kausalen Aspekts des biologischen Evolutionsgeschehens ist der Vergleich zwischen Tieren und Menschen nicht nur gerechtfertigt, sondern in der biologischen Anthropologie und Verhaltensforschung absolut unverzichtbar. Wir lernen zunehmend, dass das genetisch eigensüchtige darwinsche Prinzip auch uns Menschen konsequent zur Vermehrung der genetischen Programme eingerichtet hat. Auch unsere Psyche ist — ebenso wie die verhaltenssteuernden Instanzen der Tiere — biologisch angepasst, das heißt während ihrer stammesgeschichtlichen Entwicklung im Pleistozän auf maximale reproduktive Effizienz gezüchtet worden. Wenn wir die Funktion von Verhalten und Verhaltensunterschieden bei Tieren untersuchen, können wir — in Analogie — für die menschlichen Merkmale adaptive Szenarien ihrer evolutiven Entstehung entwerfen.Unsere evolutionäre Vergangenheit bestimmt auf vielfältige Weise unsere Gegenwart. Deswegen sind durch die Evolutionstheorie geleitete Analysen des menschlichen Verhaltens so ungeheuer wichtig und Erkenntnis bringend. Sie können aber nur gelingen, wenn wir endgültig und konsequent unsere eitle Homozentrik überwinden, und in unseren Forschungsansätzen berücksichtigen, dass wir in unserer Lebensorganisation vielleicht anders, aber keinesfalls andersartig als Tiere funktionieren. Diese Sichtweise ist zugegebenermaßen für viele häufig eine Kröte, die zu schlucken Widerstände hervorruft und einen bitteren Nachgeschmack hinterlässt. Das hat nicht zuletzt auch einen psychischen Grund, da die Evolutionsbiologie die Möglichkeiten der handelnden Subjekte verringert. Nicht wir sind die allmächtigen Regisseure des Lebens und zugleich seine Hauptdarsteller, auch wenn unsere Egozentrik das suggeriert, sondern es sind die genetischen Programme, die die Regieanweisungen geben. Sie stecken die Rahmen ab und definieren die zentralen Tendenzen, in denen unser Leben verläuft. Diese narzisstische Kränkung, die in der Degradierung vom Helden der Geschichte zum instrumentalisierten Büttel der Gene liegt, müssen wir allerdings verkraften, wenn wir menschliches Verhalten wirklich verstehen wollen.Prof. Dr. Eckart Voland, GießenGrundlegende Informationen finden Sie unter:Ehe: Konflikt und Kooperation zwischen den GeschlechternBischof, Norbert: Das Rätsel Ödipus. Die biologischen Wurzeln des Urkonfliktes von Intimität und Autonomie. München u. a. 41997.Bohman, Michael: Adoptivkinder und ihre Familien. Aus dem Schwedischen. Göttingen 1980.Fortpflanzung. Natur und Kultur im Wechselspiel, herausgegeben von Eckart Voland. Frankfurt am Main 1992.Human reproductive behaviour. A Darwinian perspective, herausgegeben von Laura Betzig u. a. Cambridge u. a. 1988.Trivers, Robert: Social evolution. London u. a. 1985.
Universal-Lexikon. 2012.